Behandlungs- und Beratungsmethoden
Therapeutisches Boxen
Im Therapeutischen Boxen (TB) erfahren die Partizipierenden mithilfe von Bewegungen, Techniken und weiteren Inhalten des Boxens eine psychische und körperliche Selbstermächtigung und Stärkung.
Anders als im konventionellen Boxsport kommt es im Therapeutischen Boxen zu keinem unmittelbaren Körperkontakt zwischen den Übenden. Während im konventionellen Boxen die Ziele primär sportlicher Natur sind, werden im Therapeutischen Boxen mit allen angewendeten Übungen und eingesetzten Materialien primär therapeutische Ziele verfolgt. Das Setting ist grundsätzlich ein therapeutisches. Idealerweise finden im Therapeutischen Boxen gemachte als positiv erachtete Erfahrungen den Transfer in die außerhalb des Trainings gelagerte Lebenswelt der Partizipierenden. Im Therapeutischen Boxen ist jedes Üben ein Miteinander, es ist in keiner Weise wettkampforientiert. Dementsprechend gibt es auch kein Sparring. Psychische und körperliche Aspekte der am Therapeutischen Boxen teilnehmenden Patienten und Patientinnen und ihrer jeweiligen diagnostizierten Beschwerde- und Störungsbilder werden in der Trainingsplanung und -durchführung berücksichtigt. Es sind keine box- oder kampfsportbezogenen Vorkenntnisse erforderlich. Therapeutisches Boxen als sport- und bewegungstherapeutische Intervention ist geeignet für nahezu alle Altersgruppen geeignet. Angestrebtes Ziel des Therapeutischen Boxens ist der Transfer und die Integration der von den Trainierenden im Training gemachten Erfahrungen (u.a. von gesteigerter Selbstwirksamkeit) in ihren Lebensalltag außerhalb des Trainings (vergleiche Klug, Flentje und Flentje, 2024).
Menschen mit einem breiten Spektrum sich psychisch und psychosomatisch manifestierender Beschwerdebilder können Nutzen und Vorteile aus dem Therapeutischen Boxen gewinnen: Depressive Störungen, sämtliche Subtypen der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS), komplexe sowie konventionelle Posttraumatische Belastungsstörungen (KPTBS/ PTBS) und Traumafolgestörungen, Emotionsregulations- und Persönlichkeitsstörungen wie zum Beispiel die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (‘Borderline‘-Typus), ‘Burnout’-Syndrom, sowie manche Angst- und Panikstörungen gehören zu den Indikationen, bei denen Therapeutisches Boxen zum Einsatz kommt (vgl. Klug, 2022).
Zu den primär psychischen Zielen des sich seit etwa zehn bis 15 Jahren im therapeutischen Spektrum nach und nach etablierenden Therapeutischen Boxens zählen u.a. ein verbesserter Zugang zu den eigenen Emotionen, Verarbeitung und Abbau von Ängsten und Unsicherheiten, sowie die Reduktion des Ausmaßes von empfundenem Stress und innerer Anspannung. Eine zeitweise Unterbrechung von belastenden Gedankenketten, das Erkennen und Respektieren eigener Grenzen und die Stärkung sozialer Beziehungen zählen ebenfalls zu den Zielen. Gerade weibliche Betroffene von frühen, anhaltenden Gewalterfahrungen können oftmals Wut nicht nach außen adressieren (Solomon und Heide, 1999). Zudem können anhaltende Gewalterfahrungen in erlernter Hilflosigkeit resultieren (Foa et al., 1989). In diesem Kontext kann das Ermöglichen eines annehmenden und wertschätzenden Erlebens von Wut und Aggressionen im geschützten Raum ein wichtiger Schritt hin zum Erleben einer gesteigerten Selbstwirksamkeit und gestärkten Souveränität sein.
Zu den primär körperlichen Zielen des Therapeutischen Boxes zählen Aufbau bzw. Verbesserung von Kraft und Ausdauer, eine Verbesserung der Körperhaltung und der Körperempfindung, Verbesserung der physischen Koordination, des Gleichgewichts und der Stand- und Gangsicherheit, sowie die Verbesserung der Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit (vgl. Klug, 2022).
In der Praxis im Gängeviertel wird Therapeutisches Boxen überwiegend im Rahmen von Einzelsitzungen angeboten.
Bei Interesse oder Fragen hierzu, sprechen oder schreiben Sie Nils May gerne an!
Therapeutisches Boxen bei komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen (KPTBS)
Bei Komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen ist es immens wichtig, vor der ersten Trainingseinheit mit den Teilnehmenden zu klären, welche Art von Traumata vorliegen. Hierbei gilt es gleichzeitig unbedingt, ein zu detailliertes Schildern der traumatischen Erfahrungen zu vermeiden, um keine eventuelle Retraumatisierung zu riskieren. Wichtig ist, zu evaluieren, ob ggf. gewaltassoziierte Traumata vorliegen. Sollte dies der Fall sein, ist ein noch sensiblerer Umgang mit den Schlagpolstern, der Demonstration von Techniken usw. notwendig. Möglicherweise noch aktive Mechanismen der Täter-Opfer-Dynamik (Sheik und McNamara, 2024; Cantor und Price, 2007, Dutton und Painter, 1993) müssen berücksichtigt werden. Es muss abgeklärt werden, wie nah und wie schnell man zum Beispiel im Lauf des Trainings auf die betreffende Person zukommen darf. Hierbei muss eruiert werden, ob der jeweilige Mensch seine Grenzen a) selber kennt, und b) wie ausgeprägt er oder sie diese kommunizieren kann. Ebenso wichtig ist es, in Erfahrung zu bringen, wie weit der/die Teilnehmende bereits in seinem/ihrem traumatherapeutischen Prozess vorangeschritten ist, u.a. in Bezug auf die Frage, ob und ggf. inwiefern der/die Betroffene bereits Fähigkeiten entwickelt hat, sich im Fall von Trigger-Situationen oder traumaassoziierten Flashbacks (also intrusivem, plötzlich einsetzenden intensiven Wahrnehmen bzw. Erleben von mit in der Vergangenheit Erlebtem assoziierten Gefühlen. Diese sind in ihrer Intensität dann häufig so stark und können so überwältigend sein, als würden sie tatsächlich gerade aktuell durchlebt. Auslöser können Gesten, Stimmen, Bewegungen, Gerüche, Kalenderdaten oder verschiedenste visuelle oder auditive Sinneseindrücke sein) wieder selbst stabilisieren zu können. Auch individuelle Grenzen und etwaige Risikofaktoren hinsichtlich potentieller Triggersituationen, sowie Grundlegendes der zukünftigen Kommunikation zwischen Partizipierender/Partizipierendem und dem/der Boxtherapeuten/-therapeutin werden im Vorfeld besprochen.
Aktueller Forschungsstand Therapeutisches Boxen
Lyon et al. (2020) konnten im Rahmen ihrer Mixed Methods Studie (‘Left Write Hook’) eine statistisch wie klinisch signifikante Reduktion spezifischer PTBS-assoziierter Beschwerden aufzeigen. Im Bereich professioneller Kampfkünstler:innen, Kampfsportler:innen und Kontaktsportler:innen konnte gezeigt werden, dass bei den untersuchten Sportler:innen gesunde Verhaltensweisen und eine höhere empfundene Lebensqualität mit ihren sportlichen Tätigkeiten korrelieren (Kortaska et al., 2019).
In einer Scoping Review von 2022 kommen Bozdarov et al. nach einer umfangreicheren Literatursichtung, welche auch MEDLINE; PsychINFO, und Google Scholar inkludierte, zum Schluss, dass das Therapeutische (“kontaktlose“) Boxen “eine kathartische Befreiung von Zorn, Aggression, Stress sowie eine Ableitung von Angespanntheit bereitzustellen zu scheint“. Die Mehrheit der von den Autoren gesichteten Studien kamen zum Ergebnis, dass Boxen Stress reduzierte und Stimmung, Selbstwertempfindung, sowie die empfundene Lebensqualität anzuheben vermochte. Des Weiteren wurden eine Reduktion der Menge konsumierter Substanzen (dort: Alkohol, Methadon, Cannabis, Kodein, Benzodiazepin) (Morton et al., 2019), als verbessert empfundene körperliche Fertigkeiten (Gammage et al., 2021), bei Schülern und Schülerinnen ein verbessertes Schulverhalten (Shultz et al., 2014; Woodhead et al., 2019) sowie eine verbesserte mentale Gesundheit (u. a. Lyon et al., 2020; Shultz, et al., 2014) beobachtet. Drei Studien (van Ingen, 2011; Lyon et al., 2020; Gammage et al., 2021) hatten traumasensibles Non-Kontakt-Boxen für Frauen mit Trauma/Gewalterfahrungen zum Forschungsgegenstand: Teilnehmerinnen fühlten sich ermutigt, in einem traditionellerweise “eher maskulin-assoziierten Sport“ und “auf sichere und gesunde Art und Weise“ ihre “angestaute Energie oder Wut herauszulassen“ (van Ingen, 2011). Die Teilnehmerinnen lernten, dass Wut eine angemessene Reaktion auf Trauma ist, und der Nutzen eines bewegungsorientierten (therapeutischen) Programmes wurde betont, welches im Vergleich zur konventionellen Gesprächstherapie, u.a. darauf setzt, “den Körper als Quelle von Kraft und Stärke” zu nutzen (van Ingen, 2011). In einem Interview gab eine Partizipierende des Therapeutischen Boxens an: “Zum Ende der Trainingseinheit im Boxen bin ich erschöpft, aber die Traurigkeit, das Trauma, fühlt sich so viel weiter entfernt an, als es zu Beginn der Fall war” (vergleiche van Ingen, 2011).
Die Autoren der Scoping Review mahnen zwar die Beschränkungen ihrer Arbeit an (u.a. das Fehlen von Peer Reviews in etlichen der von ihnen gesichteten Forschungsarbeiten), schlussfolgern jedoch, dass eine vorläufige Evidenz zeigt, dass Non-Kontakt-Boxen (Anmerkung des Autors: im Englischen ist der in Deutschland sich derzeit etablierende Begriff “Therapeutisches Boxen” (noch) nicht gebräuchlich)) gewinnbringend für die mentale Gesundheit bei Symptomen von Depressionen, Angst(störungen), PTBS, sowie Negativsymptomen von Schizophrenien zu sein scheint (Bozdarov et al., 2022). Evidenz scheint auch zu bestehen hinsichtlich des Vorteils, den einer Integration von Achtsamkeitsaspekten ins Therapeutische Boxen zu bringen scheint (Bozdarov et al., 2022). Weitere Evidenz findet sich in Bezug auf die Verbesserung körperlicher Parameter, welche mit psychogenen Erkrankungen einhergehen können, wie etwa Diabetes Mellitus (Zheng et al., 2015), kardiovaskuläre Erkrankungen (Yli-Piipari et al., 2018; Sánchez-Lastra et al. 2020), sowie Adipositas (Cheema et al., 2015). Sich auf diverse gesundheitliche Beschwerden vorteilhaft auszuwirken vermögenden Effekte adaptierten Boxens konnten auch in einem Systematic Review aufgezeigt werden (Sánchez-Lastra et al., 2020).
Mit dem Leiter der Sporttherapeutischen Akademie, Sportwissenschaftler Peter Klug, zum Abschluss einer boxtherapeutischen Weiterbildung an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Infos zu toll konzipierten und mit viel Herz & Hirn durchgeführten Weiterbildungen im Therapeutischen Boxen findet Ihr hier:
https://sporttherapeutische-akademie.de/
Hier eine aktuelle (Stand 01.09.2024) wissenschaftliche Veröffentlichung Nils Mays zum Thema:
Literatur
Klug, P., Flentje, J. und Flentje, L. (2024). Handout/ Rahmentrainingsplan für die Ausbildung zum Boxtherapeuten. IFFG; Sporttherapeutische Akademie. PDF.
Klug, P. (2022). Sports and Movement Therapy for Patients with Traumatic Experiences. archive euromedica, 12(1): 72-76.
Solomon, E. P., & Heide, K. M. (1999). Type III Trauma: Toward a More Effective Conceptualization of Psychological Trauma. International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology, 43(2), 202-210. https://doi.org/10.1177/0306624X99432007
Foa, E. B., Steketee, G., & Rothbaum, B. O. (1989). Behavioral/cognitive conceptualizations of post-traumatic stress disorder. Behavior therapy, 20(2), 155-176.
Lyon, D., Owen, S., Osborne, M.S., Blake, K., Andrades, B. (2020). Left/write//hook: A mixed method study of a writing and boxing workshop for survivors of childhood sexual abuse and trauma. Int J Wellbeing, 10(5):64-82. doi: 10.5502/ijw.v10i5.1505
Kotarska, K., Nowak, L., Szark-Eckardt, M., & Nowak, M. (2019). Selected Healthy Behaviors and Quality of Life in People Who Practice Combat Sports and Martial Arts. International journal of environmental research and public health, 16(5), 875. https://doi.org/10.3390/ijerph16050875
Morton, S., O’Brien, K., O’Reilly, L. (2019). Boxing and substance use rehabilitation: Building skills and capacities in disadvantaged communities. Community Dev J. 54(3):541-559. doi: 10.1093/cdj/bsy006
Gammage, K. L., van Ingen, C., Angrish, K. (2021). Measuring the effects of the shape your life project on the mental and physical health outcomes of survivors of gender-based violence. Violence Against Women, 28:2722-2741. doi: 10.1177/10778012211038966
Shultz, S. P., Stoner, L., Lambrick, D.M., Lane, A.M. (2014). A boxing-oriented exercise intervention for obese adolescent males: Findings from a pilot study. J Sport Sci Med, 2014;13(4):751-757
Woodhead, C., McEyeson, A., Claridge, N., Alhfar, H., Williams, I., Cummins, P. et al. (2019). Action Youth Boxing Intervention (AYBI) Real- Talk Programme: Preliminary Evaluation Report. London, UK: Department of application Health Research University College London.
van Ingen C. (2011). Spatialities of anger: Emotional geographies in a boxing program for survivors of violence. Sociol Sport J, 2011;28(2):171-188. doi: 10.1123/ssj.28.2.171
Bozdarov, J., Jones, B. D. M., Daskalakis, Z. J., Husain, M. I. (2022). Boxing as an Intervention in Mental Health: A Scoping Review. American journal of lifestyle medicine, 17(4), 589–600. https://doi.org/10.1177/15598276221124095
Zheng, Y., Zhou, Y., Lai, Q. (2015). Effects of twenty-four move shadow boxing combined with psychosomatic relaxation on depression and Anxiety in patients with type-2 diabetes. Psychiatr Danub, 27(2):174-179
Yli-Piipari, S., Berg, A., Laing, E. M. et al. (2018). A twelve-week lifestyle program to improve cardiometabolic, behavioral, and psychological health in hispanic children and adolescents. J Altern Compl Med, 24(2):132-138. doi: 10.1089/acm.2017.0130
Sanchez-Lastra, M. A., Ayán, C., Sener, M., Cancela, J. M. (2020). The use of adapted boxing as a rehabilitation strategy in people with diverse health conditions: A systematic review. Eur J Adapt Phys Act, 13(1):1-17. doi: 10.5507/EUJ. 2020.004